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Die Funktion der Kritik am Beispiel des Films "Die Welle"

Update: Neue Kommentare und Filmempfehlungen

Und mal wieder habe ich bemerkt, wie wichtig eine gute Kritik ist und wie diese aussehen kann. Es geht um "Die Welle", den neuen Film mit Jürgen Vogel. Er, der Lehrer, möchte vor Faschismus warnen und ruft dafür eine gleichgeschaltete Bewegung ins Leben, die wirklich faschistische Züge bekommt. Alles läuft aus dem Ruder.

Zuerst habe ich bei Spiegel Online von dem Film gehört. Dort gab es ein Inteview mit Vogel und einer anderen Hauptdarstellerin. Zuerst sah ich mir den eingebundenen Trailer an - und war hochbegeistert. Das Interview las ich danach. Und war noch mehr begeistert.

Und jetzt muss ich stopp rufen. Oder hätte es rufen müssen. Trailer und Interviews mit Akteuren taugen wenig bis gar nicht, um etwas einzuordnen und zu reflektieren. Ich hatte sogar spontan überlegt, den Film groß in meinem Blog zu bewerben, habe es aber aus einem Gefühl heraus doch unterlassen.

Jetzt habe ich eben in der Süddeutschen Zeitung, die Kritik zum Film von Tobias Kniebe gelesen (ich muss wirklich sagen, einer, wenn nicht der beste deutsche Filmkritiker, den ich kenne - seine Texte haben mich schon oft umgehauen).

Kniebe zeigt mit seinem Text genau, welche Funktion ein Kritiker haben muss: Er soll nicht über den Film labern, er soll ihn einordnen, ihn reflektieren und bewerten. Das soll nicht heißen, dass er sagen soll, ob der Film gut oder schlecht ist. Das ist ja der Grund, weshalb sich laut einer Studie von Media Perspektiven (siehe: Filmkritiker und Publikum) Kinogänger verunsichert fühlen und Kritiken selten mögen: Sie wollen nicht gesagt bekommen, wie sie den Film finden sollen, daher reichen ihnen Filmbeschreibungen und Trailer.

Doch genau da hakt es. Kritiken sollen helfen, ein Verständnis über ein Werk zu geben, sie sollen kein gut oder schlecht vorgeben - auch wenn der Grad oft ziemlich schmal ist.

Kniebe jedenfalls schreibt in seiner Kritik:

[Der Film sagt:] Es kommt gar nicht darauf an, wofür man sich zusammenschließt (im Film steht die "Welle" zunächst für gar nichts), allein das Gefühl der Gemeinsamkeit ist schon gefährlich und muss die schlimmsten Kräfte entfesseln. Wer aber ausgerechnet damit vor dem Faschismus warnen will, dass er ihn aller Inhalte beraubt; wer die Gefahr ganz unhistorisch und undifferenziert in Nirgendwo verortet; und wer dann auch noch vorgibt, rettende Wachsamkeit zu verbreiten - der ist doch eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung.
Spiegel Online hat derweil einen Tag später auch noch eine Kritik nachgelegt. Und auch, wenn diese den Film nicht unkritisch behandelt, so zeigt sich doch die Diskrepanz zu Kniebes Kritik, wenn man folgende Spiegel-Zeilen liest:

Der Film über eine Schulklasse, die sich freudestrahlend in Faschisten verwandelt, ist Aufklärung im schnell geschnittenen MTV-Gewand - ohne dabei peinlich zu sein.
(Die Kritik an der Marktwirtschaft am Ende des Textes scheint mir obendrein am Thema des Films vorbeigeschrieben zu sein.)

Dieses Phänomen habe ich schon öfters beobachtet. Spiegel Online (und sogar auch nicht zu selten der gedruckte Spiegel) präsentieren sehr schnell (SpOn) sehr gekonnt appetitliche Inhalte, kratzen aber oft nur an der Oberflächte. Die journalistische Funktion des Informierens wird damit gewährleistet, das des Erklärens und Einordnens nicht.

Ursprünglich veröffentlicht am 12. März 2008
Raine - 2008-03-12 17:39

Ich versuche mich eigentlich allgemein von Trailern, Inhaltsangaben und auch Kritiken fern zu halten, bevor ich einen Film sehe, da indirekt leider doch immer ein "gut" oder "schlecht" vorgegeben wird.

"Die Welle" wollte ich mir vielleicht aber doch ansehen. Hab damals das Buch gelesen und wüsste gerne, wie sie das umgesetzt haben.
Malte - 2008-03-12 19:12

einge gute Taktik von Raine. Man wird schon sehr stark vor-beeinflusst.
7an - 2008-03-12 23:24

diese angst vor der journalistischen kritik erweckt in mir ein unbehagen. einerseits kann ich es nachvollziehen, anderseits nicht wirklich verstehen. ist die furcht vor vemeintlicher manipulation so groß? oder anders gefragt: ist der mensch so leicht manipulierbar? und was ist mit dem diskurs um ein werk? kann ein wirklich großer film oder meinetwegen auch ein buch, keine kritik vertragen ohne dass alles zerbricht?
Malte - 2008-03-12 23:49

die Sache ist die: Ich persönlich lasse mich absolut durch ein Medium manipulieren; das liegt daran dass ich das Medium z.B. besonders schätze. Ein Beispiel: Wenn die Süddeutsche das Buch lobt, dann wird es auch gut sein. Oder wenn das Buch im Spiegel gut wegkommt, dann lese ich es auch. Man identifiziert sich eben mit seinen Medien. Ein Buch-Kaufvorschlag von der NZZ würde ich nie im Leben befolgen.
7an - 2008-03-13 00:02

lol. was hast du gegen die nzz? ich höre immer nur gutes über die zeitung? aber du hast irgendwie recht. das ist was dran. man glaubt den medien, die man mag. hm. aber irgendwie doch nicht, wenn man filmkritiken nicht liest, um sich nicht die hoffnung zerstören zu lassen, der film könnte gut sein.
Raine - 2008-03-13 17:41

Von der Gefahr der Manipulation kann ich mich leider auch nicht frei sprechen. Aber was mich manchmal auch stört ist, dass viele Ideen und Blickwinkel auch vorweggenommen werden, die ich gerne im Film selber entdeckt hätte.
7an - 2008-03-14 10:14

das ist natürlich kein schlechtes argument.
mrpink - 2008-03-13 13:08

"Die journalistische Funktion des Informierens wird damit gewährleistet, das des Erklärens und Einordnens nicht."

Dieser Satz zeigt für mich genau die momentane Entwicklung des Journalismus auf...

Die Tendenz geht zu schnell und oberflächlich. Diese Veränderung geht aber meiner Meinung nach nicht vom Journalismus aus, sondern von der Gesellschaft, von den Lesern und Usern. Die Medien passen sich diesem Trend nur an.
7an - 2008-03-14 10:30

damit hast du nicht unrecht. auch, wenn es nicht so schlimm ist, wie man vielleicht denken mag. die bild war auch schon vor zehn jahren mies, die zeit ist auch heute noch großartig. aber es gibt in der heuten medienbrachne zweifelsohne einen stärkeren trieb zu quote und rentabilität als früher. die sportsender, die keinen sport mehr bringen, sondern nur noch quiz-shows, die nicht einmal den namen verdienen, sind nur ein beispiel.

was ich so gehört habe, fehlt vor allem dem deutschen fernsehen, der mut (siehe auch die kalkofe-abrechnung auf den münchener medientagen) das radioprogramm ist oft eine einzige katastrophe (sender wie deutschlandfunk, swr2 und kleine indie-radios mal ausgenommen). lokalzeitungen ersticken sich in belanglosigkeit und phrasendrescherei und online-zeitungen setzen oft auf titten. was ja gar nicht so schlimm ist, wenn es auch noch texte mit anspruch gibt.

sueddeutsche.de macht da einen ganz guten kompromiss: die leitartikel von leyendecker oder prantl sind nicht schlechter platziert als boulevardeske inhalte. und letztere sind auch wichtig, da der online-user nicht nur information, sondern auch ablenkung sucht (kompensation zum beriesel-tv?) und der verlag auch quote sprich page impressions machen muss, um die werbung gut verkaufen zu können, womit letztlich alles finanziert wird.

obendrein ist es aber überraschend, wie gut bisweilen vermeintlich trockene themen laufen, wenn sie gut aufbereitet sind. aber das braucht natürlich ressourcen und die nötige bereitschaft - womit wir wieder bei den vertrauenswürdigen marken sind.
Sun-ray - 2008-03-16 03:18

Was Kniebe da als Kritik vom Stapel lässt, ist Dünnsinn.
Als sei es bei Faschismus jedweder Art und Farbe
jemals um Inhalte gegangen.
Ganz im Gegenteil werden solche lediglich
als Alibi und Rechtfertigung benutzt, was sie beliebig macht.
Tatsächliche Antriebskraft ist Angst, Abgrenzung und Hass.
Und genau das zeigt der Film wirklich anschaulich.
Dito, wie sich so eine Welle aufbaut und Eigendynamik erlangt.
Ich hab den Film vor Ewigkeiten als Schülerin gesehen.
Bestimmt würde ich ihn heute mit anderen Augen sehen,
aber damals war er so nachhaltiges Aha-Erlebnis,
das ich seitdem jedesmal an ihn denken muss,
wenn ich mit dem Phänomen
"da, wo alles, was anders ist, stört" konfrontiert werde.
7an - 2008-03-23 16:31

im gegenteil. oder willst du bejahen, dass allein "das gefühl der gemeinsamkeit" schon gefährlich ist? und natürlich geht es im faschismus um inhalte. es geht um ausgrenzung, gewalt gegen bestimmte gruppen und um die vermittlung klarer botschaften.

im übrigen ist nicht die frage, ob eine bewegung eine eigendynamik erlangt, sondern, ob diese eigendynamik zwangsweise in unterdrückung und gewalt enden muss. selbst bei dem projekt, auf dem "die welle" basiert, ist nicht die gewalt eskaliert.
7an - 2008-03-23 17:13

was hier noch vergessen wurde und was ich besonders den kritikern der kritik sagen möchte: was ist mit der kritik, die überhaupt erst ein forum für ein werk schafft? was mit der kritik, die überhaupt erst einen autor etc. ins licht der öffentlichkeit rückt? schlegel ging sogar so weit, dass er sagte: "in der tat kann keine literatur auf die dauer ohne kritik bestehen."*

und raine, du hast gut argumentiert, dass du manche aspkete eines filmes gerne selbst entdecken möchtest, was absolut zu respektieren ist. was aber ist, wenn man selber gar nicht darauf kommt und gerade die kritik den eigenen fokus für bestimmte aspekte eines filmes zu schärfen vermag?

außerdem habe ich wirklich die erfahrung gemacht, dass der querschnitt mehrerer qualitätskritiken wirklich die qualität eines filmes (um mal bei dem beispiel zu bleiben) auf den punkt bringt - ohne einem den spaß vorher zu verderben oder spannung zu rauben.

als beispiel: into the wild war großartig und genauso wie die kritiken ihn beschrieben haben. ich konnte sogar noch den film ein wenig besser verstehen, weil ich bereits über mehr hintergrundwissen verfügte. die liebe in zeiten der cholera war ein sehr mittelmäßiger film, der auch in den kritiken sehr mittelmäßig abschnitt. von dem film hatte ich mir zum beispiel viel mehr erhofft und nachdem ich die kritiken gelesen hatte, wollte ich nicht mehr hinein. letztlich bin ich doch noch reingegangen, weil ich zeit vertrödeln musste, aber eigentlich hätte ich mir den film auch sparen können. an vielen stellen fand ich ihn sogar recht kitschig und ich glaube nicht, dass marquez' buch so mittelmäßig ist.

gestern abend sah ich "black dahlia" zur hälfte. nicht einmal. ich werde ihn wohl auch nicht beenden. er ist langweilig. aus den kritiken hatte ich das schon vorher entnommen.

der punkt ist doch einfach: die kinowerbung und die programmheftchen loben jeden film. und die guten filme erwähnen sie im übrigen gar nicht, da im den kommerz-kinos eh nur der letzte mist läuft (michael clayton, ein irre guter und hochspannender film über moral und viele andere filme laufen nur in den kleinsten undergroundkinos - wochen nach filmstart). filmkritiken - und auch anderen kritiken - sind daher vor allem ein sprachrohr für filme. sei es als warnung, sei es als empfehlung.

und nicht zuletzt ist die kritik immer auch zeichen einer freien gesellschaft. nicht ohne grund war im dritten reich ausschließlich die "literaturbetrachtung"* erwünscht.

* quelle: geo themenlexikon literatur, band 29, s. 706 f.

und wo ich schon so viel über kritiken gesagt habe, möchte ich abschließend noch zwei filme empfehlen, die mir sehr gut gefallen haben. zum einen michael clayton (bei spon gibt es eine gute kritik) und den film "lie with me - liebe mich". ein großer film über die zwischenmenschlichen kollisionen, sehnsüchte und hoffnungen - und über verlangen und liebe. trailer, beschreibung und cover lassen durchaus auf kitsch schließen, aber nichts davon kann die lasziv-sehnsuchtsvolle stimmung vermitteln, die der film stück für stück wachsen lässt.

hier die trailer:


Tarass - 2008-03-23 18:21

Ich find deinen Beitrag wirklich sehr interessant, sehr anrgende Standpunkte !
Betravel - 2008-03-31 12:57

Was das Publikum will, weiß es doch selbst nicht so genau. Und die Welle - naja, warum soll das keine Aufklärung sein? Es geht doch nur um das Funktionieren alltäglicher negativer Gruppendynamik.

Eine Gruppe entsteht.
Ihr Selbstverständnis wird elitär.
Gegensatz innen <-> außen entsteht.
Ausgrenzung entsteht.
Selbstverstärkung setzt weitere Mechanismen in Gang...

War, wie ich fand, gut nachgezeichnet, oder? Mir fehlte - aus der Hinsicht, dass man ja annimmt, dass bei Schüleraufführungen etwas gelernt werden sollte - eine Art explizites Benennen dieses und anderer Mechanismen.

Kniebe schreibt: "Es kommt gar nicht darauf an, wofür man sich zusammenschließt (im Film steht die "Welle" zunächst für gar nichts), allein das Gefühl der Gemeinsamkeit ist schon gefährlich und muss die schlimmsten Kräfte entfesseln."

Das ist Quatsch. Zusammenschlüsse sind nicht per se gefährlich. Gefährlich wird es ab dann, wenn die Dynamik in Richtung eines elitären Selbstverständnisses geht. Und das ist nicht nur im Faschismus (rassische/nationalbegründete Überlegenheit), sondern auch bei Denkfabriken/Verbänden/Parteien möglich und eigentlich überall zu beobachten. Durch das Überlegenheitsgefühl ändert sich die Gruppen und Eigenwahrnehmung und heraus kommen krude und manchmal furchtbare Dinge.

Dass genau dieser Film in seiner Sprache am Ende zu expliziter Gewalt (Schuss auf Mitschüler, Suizid mit Schusswaffe) greift, das wird meiner Ansicht nach zu recht kritisiert. Das alles erscheint zwar, da nahegelegt, nicht unplausibel, ist aber IMHO für die Dramatik nicht nötig.
7an - 2008-03-31 13:16

kniebe meint die aussage ironisch. genau was du kritisierst, kritisiert er auch.

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