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G8 - Ein Pamphlet

Präludium oder: Wie man mit Umwegen Erfolg hat - eine schulische Vita

Schule war für mich immer etwas Lockeres. Die Grundschule war lässig. Irgendwann wurde es doch ein bisschen stressig, da habe ich einfach ein Jahr wiederholt. Danach war alles wieder sehr entspannt. Die Noten waren waren sowieso Sahne. Es waren die goldenen Tage meiner schulischen Kindheit. Damals auf der Dorfgrundschule mit dem großen Spielplatz und dem Teich hinter dem Gebäude, den ich selber in einer AG mitgeholfen hatte anzulegen.

Dann kam die Orientierungsstufe. Fünfte und sechste Klasse. Das war schon nicht mehr so goldig. Die OS, wie sie kurz hieß, war in der Stadt und in einem Gebäude mit der Hauptschule untergebracht - also gewissermaßen ein bisschen - Pardon - asozial. Nichts gegen die Hauptschule oder diese Schule per se, aber die Stimmung auf dem Schulhof war damals, sagen wir: unkultiviert (Hauptschüler beziehungsweise die schwächsten Schüler müssten eigentlich, nein müssen am Stärksten gefördert werden und nicht in Schulghettos abgeschoben werden). Meine Leistungen waren dementsprechend. Das Umfeld beeinflusst alles. Ich bekam die Realschulempfehlung nur, weil die Lehrer ein Auge zudrückten.

Auf der Realschule war wieder alles besser. Heutige Realschule in Großstädten heben sich wahrscheinlich gar nicht mehr von den Hauptschulen ab, aber meine Realschule, das war wirklich noch eine heile Welt. Ich schrieb nur noch Zweien.

Danach Gymnasium. Fachgymnasium Technik. Leider die falsche Wahl. Und der Schritt war zu groß. Alle Fächer zwei Noten runter. Verdammt, mir hatte in der Realschule niemand beigebracht, selbständig zu lernen. Man hatte ein bisschen Stoff durchgenommen und gut war es. Aber ich hatte keinen Sinn für das Wissen und den Wert der Bildung.

Den fand ich, als ich die elfte Klasse wiederholte. Dieses Mal war ich so richtig sitzen geblieben - nicht wie in der Dritten, das war freiwillig. Sei's drum. Plötzlich hatte ich soviel Spaß an der Schule wie nie zuvor. Ich erkannte plötzlich den Wert der Bildung, den Reiz der Intellektualität - um Mal ein wenig zu übertreiben.

Ein Autor von dem Jugendportal der Frankfurter Rundschau schreibt zum Sitzenbleiben übrigens Folgendes: "Generell zeigt es sich, dass 'Wiederholer' oft viel an Reife und Erfahrung im Umgang mit den Jüngeren dazu gewinnen, gerade in der Mittelstufe. Eine Erfahrung, die viele nicht missen wollen".

Nach der gut bestandenen Elften wechselte ich trotzdem auf eine Fachoberschule für Gestaltung (wollte damals noch Design studieren). Die Fachoberschule war ein Witz im Vergleich zum Gymnasium. Ich ließ ein ganzes Halbjahr lang ein Fach ausfallen und kassierte am Ende eine Fünf, weil ich nicht so früh aufstehen wollte. Im Jahr drauf (Abschlussjahr), schrieb ich Einsen. Ich musste mich nicht sonderlich anstrengen, hatte gemütliche Schulzeiten und wurde Jahrgangsbester.

Globalisierter Wettbewerb?

Nun diskutieren, nein erzürnen sich alle über G8, die verkürzte Gymnasialzeit. Angeblich soll das ja gut sein, weil man dadurch nach der Schule seine Chancen im globalisierten Wettbewerb erhöht – was auch immer das konkret heißen soll, aber globalisierter Wettbewerb klingt einfach immer wichtig. Wie man seine Chancen verbessern soll, wenn man nur noch Stress beim Lernen hat und kaum noch Zeit für etwas anderes, geschweige denn Zeit für Müßiggang oder Ruhe, die es braucht, um Gedanken und Intellekt reifen zu lassen, soll Mal jemand erzählen.

Natürlich ist G8 Schwachsinn. Warum hängt man eigentlich nicht ein Jahr dran? Ja genau, einfach ein Jahr mehr, nicht eins weniger. G10! Von mir aus auch G11. Im elften Jahr könnte man ein Jahr im Ausland verbringen. Wäre auch toll. Vor allem, da die Bachelorisierung der Hochschulen Auslandsaufenthalte eher erschwert, was nicht heißen soll, dass ich Bologna schlecht finde.

Punkt ist, dass alles derzeit optimiert werden soll. Alles muss effizient sein. Effizient und zeitoptimiert, und überhaupt maximiert und ganz wettbewerbsfähig. Es ist gewissermaßen eine unvermeidbare Konsequent des atemlosen Wirbels, in dem unsere Gesellschaft sich befindet. Gefährlich viele Bereiche unseres Alltages sind übertaktet. Oder warum ist Tinnitus mittlerweile eine Volkskrankheit? Warum ist Burn-Out nicht auf Top-Manager im Alter von 50+ begrenzt? Warum drehen ständig junge Menschen durch und laufen Amok? Warum verprügeln Jugendliche Rentner in U-Bahnen oder Mitschüler und nehmen die Tat auf ihren Handys auf? Warum schneiden sich immer mehr Mädchen die Haut auf? (Ich vermische einiges, das nicht zwingend zusammen gehören muss, doch die beschriebenen Phänomene tauchen auch nicht im luftleeren Raum auf) Ist es, weil unsere Gesellschaft, die Zeit, in der wir gerade Leben so ruhig, überlegt und geerdet ist?

G8 ist keine Überraschung, es ist eine logische Konsequenz - genauso wie der Preis, den wir dafür zahlen werden müssen, wenn wir uns nicht besinnen. Wenn wir nicht langsam anfangen, wieder zur Ruhe zu kommen, zu uns selbst finden.

Ich hatte damals einen Kumpel in meiner Fachoberschulklasse. Er hatte zu dieser Zeit schon einen sehr kritischen Verstand. In der Zwölften sagte er plötzlich, dass er aufhört, abbricht, es wäre ihm alles zu viel, der Druck wäre ihm zu groß. Ich bewundere ihn irgendwie bis heute für diesen Mut – weil ich glaube, dass es für ihn damals wirklich nicht das Schlechteste war. Und ich glaube, er hat mehr über das Leben gelernt, als so mancher Musterschüler. Also können wir bitte Mal langsam ernsthaft darüber reden, was Bildung, Intellekt und persönliche Entfaltung in unserer Gesellschaft bedeuten sollen?


Menschen, die dieses gemacht haben:

Christian Geyer, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Hände weg von unserer Kindheit!

Susanne Gaschke, Die Zeit
Kinderarbeit

Reinhard Kahl, Zeit Online
Pädagogische Bulimie

Tanjev Schultz, Süddeutsche Zeitung
Im pädagogischen Mastbetrieb

Marthe Deutschmann, Gymnasiastin
Wir Turboabiturienten
Raine - 2008-02-11 09:40

Ich seh es wie du, dass das Abitur in der 12. nicht gerade die beste Idee ist. Genauso wie den Bachelor einzuführen. Aber ich weiss auch nicht, woran das liegt. Haben zu wenig Politiker, die für solche Entscheidungen verantwortlich sind, Kinder? Sehen sie manchmal die Überforderung und den Druck nicht?
Vielleicht wäre sowas damals sinnvoller gewesen, wo auch die Klassen noch nicht so groß waren. Wo man mit 5 Leuten Abitur gemacht hat und nicht mit knapp 100 in einem Jahrgang. Die sollten sich lieber überlegen, wie man die Schüler mit AGs und Auslandsaufenthalten besser aufs Leben vorbereiten kann, anstatt sie in kürzester Zeit durch Schule und Studium zu jagen.

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