header_neu

Tomatensauce und kaputte Bilderrahmen

Fragwürdige Relevanz eines Augenzeugenberichtes vom Erdbeben in Neuseeland

Augenzeugenberichte sind eine Urform des Journalismus. Unter anderem in der Frankfurter Rundschau und in den Stuttgarter Nachrichten ist nun ein Augenzeugenbericht aus dem neuseeländischen Christchurch erschienen, wo zumindest 65 Menschen bei einem Erdbeben ums Leben kamen.

In der Regel sind Augenzeugen Informanten für Journalisten, gute Augenzeugenberichte können auch für sich alleine stehen. Der Augenzeugen-Bericht in der Frankfurter Rundschau und den Stuttgarter Nachrichten wurde gar von einer Journalistin geschrieben. Sissi Stein-Abel arbeitet als Korrespondentin in Neuseeland für deutsche Zeitungen. 13 listet sie auf ihrer Website auf, auf der auch zu lesen ist, dass sie die Deutsche Journalistenschule besucht hat. Das hat mich überrascht.

Der Bericht von Stein-Abel ist keine Reportage und vermittelt nicht das Ausmaß der Tragödie. Der Bericht lässt den Leser, man könnte fast sagen: im Behaglichen. So heißt es: "Schnell die an der Wand baumelnden Bilder abhängen, die noch nicht in tausend Scherben auf den Boden gekracht sind, damit sie beim nächsten Rumpler nicht durch den Raum fliegen und noch mehr Schaden anrichten. Es lebe der alte deutsche Kleiderschrank, er steht unverrückt wie eine Eiche." Im begehbaren Speiseschrank stapeln sich gar "die Vorräte – garniert mit Tomatensauce und Glasscherben – einen halben Meter hoch". Und am Ende wird es fast schon romantisch mit "Nachbeben bei Kerzenschein".

Zwischendurch hat sich die Autorin draußen ein wenig umgeschaut und eingestürzte Kirchen und mit dem Schrecken davongekommene Menschen gesehen. Von den Toten hingegen ist in dem Text nichts zu lesen. Bei den Stuttgarter Nachrichten wurden sie zumindest noch hineinredigiert.

Nachtrag 24. Februar: Nun aber. FR-Autorin Sissi Stein-Abel streift durch das zerstörte Christchurch und spricht mit Überlebenden, Rettungskräften und Polizisten. Schönes Stück.
Sissi Stein-Abel (Gast) - 2011-02-25 00:39

Schreibtischtäter

Ja, in der Stube, wo die Welt nicht wackelt, lassen sich trefflich solche Kritiken schreiben.

Ich habe diesen Text wenige Stunden nach den Augenblicken geschrieben, als ich dachte, mein Leben ist vorbei, und ich habe - mit Stirnlampe im Bett sitzend - niedergeschrieben, was ich in Lyttelton erlebte. Der Text war sehr lang, deshalb wurde er in den Redaktionen gekürzt. Mal blieben mehr Banalitäten stehen, mal weniger.

Wir waren in Lyttelton von der Außenwelt abgeschnitten, ich hatte keinen Strom, um wie Sie in den Fernseher zu starren und mich von den Bildern beeindrucken zu lassen, hörte lediglich die Zahl der Toten in einem Minitransistorradio. Ich musste in rasender Eile schreiben, weil jeden Augenblick der Saft meiner Akkus ausgehen konnte. Datenübertragung per zufällig vorhandenem Data-Stick.

Auch diesen Fakt habe ich selbstverständlich in meinen Text geschrieben. Die Zahl der Toten wurde in den Stuttgarter Nachrichten übrigens nicht reinredigiert, sondern eher in der FR rausgestrichen.

Ich hatte leider keinen Hubschrauber zur Verfügung, um gleich nach dem Desaster nach Christchurch zu fliegen. Und ich konnte auch nicht schnell rüber fahren, weil der Tunnel gesperrt war und unser Auto auf der Christchurch-Seite der Port Hills stand. Selbst die Fahrt über die Berge zwei Tage später - "nun aber", wie jemand ironisch anmerkt - war eine schwierige Mission, weil man nicht einfach ins Sperrgebiet reinfahren kann.

Es ist doch logisch, dass ich gleich dorthin wollte, aber es ging eben nicht. Zudem bin ich ein Ein-Frau-Team und kein riesiges TV-Team, das mit seinen Übertragungswagen direkt ans Einsatzzentrum vorfahren darf, um der Welt und Ihnen sofort Live-Bilder zu senden, und Sie können sich dann - dank Strom, endloser Zeit und freiem Kopf - über eingeschlossene Korrespondenten lustig machen und mit Hilfe der TV-Bilder und -Zitate eine lebhafte Reportage in der Redaktion zusammendichten.

Andere Kollegen haben mir mitgeteilt, wie beeindruckt sie sind, dass ich unter diesen Umständen überhaupt zu schreiben in der Lage war, während Sie sich nach meinem persönlich gefärbten Erlebnisbericht über meinen Werdegang und die Ausbildung an der Journalistenschule wundern. Für mich sind Sie ein klassischer Fall von Schreibtischtäter.
7an - 2011-02-28 12:53

Liebe Sissi Stein-Abel,

Medienblog-Einträge entstehen natürlich fast ausschließlich am Schreibtisch. Verstehen Sie mich nicht falsch, meinen Respekt für ihren Elan und die Fähigkeit unter solchen Bedingungen arbeiten zu können, aber als ich den Text gelesen habe, dachte ich mir, "verdammt, da sind etliche Dutzend Menschen gestorben, und die Autorin hat Angst um ihre Bilderrahmen". Ich habe mich auch gefragt, wie relevant ein Bericht aus Lyttelton ist - Epizentrum hin oder her, wenn die wahre Tragödie mit all den Toten in Christchurch ist. Ich hätte es besser gefunden, auf den Lyttelton-Text zu verzichten, aber im Christchurch-Text einen kurzen Abstecher nach Lyttelton zu machen.
Sissi Stein-Abel (Gast) - 2011-03-04 23:13

Zusammenspiel von Autor und Redaktion

Das Problem, das ich mit Ihrem Blog habe, ist, dass Sie sich aus einem 300-Zeilen-Text zwei Details herauspicken, die Ihnen nicht gefallen. Selbstverständlich hatte ich auch keine Angst um die Bilderrahmen, sondern ich hatte Angst, dass die Wechselrahmen - alle mit Glasplatten - beim nächsten Schüttler wie Geschosse durch die Luft fliegen und noch mehr Schaden anrichten oder gar mich treffen würden. Sie können sich kaum auf den Füßen halten und rund um Sie herum kracht es, Schränke stürzen kreuz und quer durch die Räume, überall dieses Geräusch von klirrendem und zerspringendem Glas. Da ist es doch logisch, dass ich in den bebenfreien Augenblicken herumrenne und die Bilder abhänge, damit ich sie mir später nicht an den Kopf fliegen.

Als ich Angst um meinen Kopf hatte, hatte ich keine Ahnung, wie es drüben in Christchurch aussah. Es ging um mein Leben. Später habe ich von Bekannten in anderen Teilen Neuseelands erfahren, wie schwer das Beben war, wir hatten doch in Lyttelton keine Ahnung, hatten keinen Strom, um fernzusehen. Erst viel später haben wir gehört (und bis zum nächsten Tag immer noch nicht gesehen), wie es in Christchurch aussah und dass es viele Tote gegeben hatte.

Ich konnte nur schreiben, was ich gehört und gesehen hatte. Wenn die Redaktionen meinen Bericht nicht gut und meine Details irrelevant gefunden hätten, hätten sie alle Zeit der Welt gehabt, den Text nur in Auszügen zu drucken und mit Agenturmaterial zu ergänzen, denn die Agenturen hatten ja Strom, Licht und Fernsehen, so wie Sie in Deutschland.

Und "wie relevant ein Bericht aus Lyttelton ist"... Ich saß eben hier fest und konnte nichts anderes liefern.

Wie mein Material aufbereitet wurde, lag in den Händen der Redaktionen, nicht bei mir. Offenbar fanden die Redaktionen meine Eindrücke authentisch und dramatisch genug, um sie so abzudrucken, wie ich sie beschrieben hatte. Keine Redaktion ist verpflichtet, meine Texte wörtlich abzudrucken. Wenn Sie sich die Mühe machen, auf meiner Website den ungekürzten Text zu lesen, werden Sie feststellen, dass auch Christchurch nicht zu kurz gekommen ist. Und in den folgenden Tagen bin ich ja sofort dort hingegangen, sobald es möglich war.

Es gibt innerhalb der Redaktionen und auch bei den Lesern immer unterschiedliche Meinungen über Texte. Was Ihnen nicht gefällt, finden andere gut - und umgekehrt. Das liegt in der Natur der Sache. Nicht einer hat die Weisheit gefressen und alle anderen sind blöd.

Trackback URL:
https://jan.twoday.net/stories/14648562/modTrackback



Neuester Kommentar

Danke
Vielen Dank für diese Sätze: "Es sollte eine sehr gute...
Johanna (Gast) - 2013-12-05 10:34
Gut analysiert. Nur bei...
Gut analysiert. Nur bei der politischen Ausrichtung...
7an - 2013-10-10 15:08
Kein Interesse
Nur eine kurze Anmerkung. Journalisten denken von ihrem...
Otto Hildebrandt (Gast) - 2013-10-10 14:08

Suche

 



arbeitsprozesse
das schreiben
der autor
der journalismus
digitale welt
diplomtagebuch
freie presse
fundsachen
gedanken
journalismus-studium
medienbeobachtungen
meinung
panorama
persönliches
poeten
reisenotizen
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren