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Auf der Flucht

Natalia Radina bietet mit ihrem Online-Portal Charter97 dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko die Stirn. Der KGB steckte sie dafür in den Knast, ihr Freund und Herausgeber wurde ermordet. Radina floh nach Litauen und setzt dort sein Vermächtnis fort.

von Jan Söfjer

Natalia Radina in Vilnius. Alle Rechte: Jan Söfer
Natalia Radina in Vilnius. Foto: Jan Söfer

Die maskierten Spezialeinheiten stürmen die Redaktion um 4.40 Uhr. Es ist Montag, der 20. Dezember 2010. Vor ein paar Stunden endete die Präsidentschaftswahl in Weißrussland. Noch am Abend waren 10.000 Menschen in der Hauptstadt Minsk auf der Straße und demonstrierten gegen Alexander Lukaschenko, der sich an der Macht halten will. Ein Video im Internet zeigt eine Armee von Polizisten auf einem Platz, der ein bisschen an den Berliner Alexanderplatz erinnert. Eng aneinandergereiht trommeln die Polizisten mit Schlagstöcken auf ihre Plexiglasschilde, rücken gegen Bürger in Winterkleidung vor, die zur Seite ausweichen, aber nicht schnell genug wegkommen. Dann sind die Polizisten dran. Ein Mädchen in weißer Jacke schreit, stürzt in den Schnee, Knüppel treffen sie auf den Rücken, auf den Kopf. Im Hintergrund leuchtet ein großer Weihnachtsbaum.

Natalia Radina, die Chefredakteurin von Charter97.org, des wichtigsten oppositionellen Mediums im Land, ist an diesem Abend auch auf der Straße. Sie sieht die Gewalt mit eigenen Augen. Rund 1.000 Menschen werden an diesem Tag festgenommen, darunter der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Andrej Sannikow. Um 1.43 Uhr ist Radina zusammen mit sechs Mitarbeitern wieder in der Redaktion und stellt ein Video online. Eine Menschenmenge skandiert immer wieder an die Polizisten gerichtet: „Wir sind ein Volk.“ Für deutsche Ohren erinnert die Parole an die Proteste 1989. „Wir sind das Volk.“

Um 1.52 Uhr stellt Radina eine englischsprachige Meldung über Journalisten online, die geschlagen worden sind, darunter der New-York-Times-Reporter John Hill. Ein anderer Kollege wird mit den Worten zitiert: „Wenn mich niemand von den Stiefeln der Sicherheitskräfte weggezogen hätte, hätten sie mich umgebracht.“ Auch Radina hat etwas abbekommen. Um 4.33 Uhr, sieben Minuten bevor die Spezialkräfte die Redaktion stürmen, geht eine Meldung in eigener Sache online. Polizei und Männer vom Geheimdienst KGB haben Radinas Privatwohnung durchsucht und ihre Mutter verhört. Dann wird die Stahltür der Redaktion eingedrückt. Die letzte Nachricht, die Kollegen von Radina erhalten, lautet: „Wir sind alle beim KGB.“

Die 32-jährige Natalia Radina ist derzeit die wohl bekannteste weißrussische Journalistin. Auf dem Ministertreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Anfang Dezember traf sie die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton. Kurz zuvor erhielt die Charter97-Chefredakteurin in New York den International Press Freedom Award 2011 vom Committee to Protect Journalists – einer Nichtregierungsorganisation, die 1981 von Auslandskorrespondenten gegründet wurde und zu deren Vorsitzenden die ehemalige CNN-Chefkorrespondentin Christiane Amanpour gehört. Vergangenen März demonstrierte Filmschauspieler Jude Law in London mit einem Plakat gegen die Lukaschenko-Diktatur. Das Plakat zeigte ein Bild von Natalia Radina. Doch auf solche Prominenz würde sie wohl gerne verzichten, wenn ihr damit alles, was sie durchmachen musste, erspart geblieben wäre.

„Wir schämten uns, den Eimer zu benutzen“

Nachdem das Spezialkommando sie im Dezember vor einem Jahr mitgenommen hat, kommt Natalia Radina in den KGB-Knast. Eine der beiden anderen Insassinnen ihrer Zelle ist Irina Chalip, Ex-Reporterin der russischen Zeitung Nowaja Gaseta und Ehefrau des Oppositions-Präsidentschaftskandidaten Andrej Sannikow, der bis heute in Haft ist. Er bekam fünf Jahre.

„Ich bemerkte, dass die meisten der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten und ihre Mitarbeiter in den Nachbarzellen waren“, sagt Radina. „Ich hörte, wie die männlichen politischen Gefangenen gefoltert wurden.“ Radina wird beschuldigt, Demonstrationen organisiert und die Massen aufgewiegelt zu haben. Ihr drohen 15 Jahre Haft, fünf zumindest. „Man sagte mir, dass ich danach krank aus dem Gefängnis kommen würde und keine Kinder mehr bekommen könnte.“

In der Zelle der drei Frauen stehen nur zwei Betten. Radina schläft auf dem Beton. Es gibt einen Kaltwasserhahn und einen Eimer, sonst nichts. „Wir schämten uns, den Eimer zu benutzen. Die Wachen schauten ständig herein. Aus Protest tranken wir nichts mehr. Danach brachten sie uns alle vier Stunden zur Toilette.“ Nach sechs Wochen wird Radina überraschend frei gelassen. Unter Auflagen. Sie muss Minsk verlassen, darf nicht mehr arbeiten und muss in ihrem Elternhaus in Kobryn nahe der polnischen Grenze wohnen. Zweimal am Tag muss sie sich bei der Polizei melden. Man nimmt ihr den Pass weg.

Radina ist in keinem oppositionellen Elternhaus aufgewachsen. Ihr Vater war bei der Luftwaffe und „ein Kämpfer in der Küche“, sagt Radina. „Aber er hatte seine Prinzipien. Er ist nie in die Kommunistische Partei eingetreten und hat seine Kinder ungeachtet aller Verbote christlich taufen lassen.“ Die meisten Weißrussen sind russisch-orthodox.

Am 31. März 2011 flieht Radina. Nach Moskau. Nur mit Zahnbürste und Laptop, um nicht aufzufallen. An der Grenze nach Russland gibt es keine Kontrollen. Sie kommt vier Monate bei Freunden unter, hat ständig Angst, erwischt zu werden. Die Vereinten Nationen erkennen sie schließlich als Flüchtling an. Sie reist in die Niederlande aus und von dort nach Litauen in die Stadt Vilnius. Die Stadt galt schon im Mittelalter als Ort der Zuflucht und der Religionsfreiheit. Gegen 1900 war Vilnius eine der größten jüdischen Städte, 40 Prozent der Bewohner waren Juden. Noch heute nennt man die Stadt auch Jerusalem des Nordens.

Für fünf Jahre Asyl

Heute ist Vilnius das Zentrum der weißrussischen Opposition. Von Minsk trennen die Stadt im Baltikum nur 200 Kilometer, drei Stunden mit der Bahn. Viele Menschen sprechen Russisch. Radina hat Asyl für fünf Jahre bekommen. Rund ein halbes Dutzend Charter-Mitarbeiter ist nach Vilnius geflohen und arbeitet von dort aus. Ungefähr genauso viele sind in Minsk geblieben, agieren aber aus dem Untergrund heraus. Mehr als eine Million Besucher soll Charter97.org mittlerweile im Monat haben. Die Präsidentin der unabhängigen Weißrussischen Journalisten- Vereinigung, Zhanna Litvina, lobt Natalia Radina für ihren Mut und ihre Professionalität. „Charter97 ist eine hochgeschätzte Informationsquelle, die sich nicht hat zum Schweigen bringen lassen.“

Der journalist möchte die litauische Exil-Redaktion von Charter97 besuchen. „Kommen Sie vorbei“, sagt man. Einige Zeit später heißt es, die Redaktion habe gar keine eigenen Räume. Zwei Stunden vor dem verabredeten Interviewtermin sagt Radina ganz ab: Vielleicht klappe es später, vielleicht morgen, aber nur kurz. Es ist der Abend vor dem OSZE-Ministertreffen in Vilnius. Radina hat viel zu tun. Oder ist sie nur sehr vorsichtig? Noch heute, sagt sie, bekomme sie anonyme Anrufe und Droh-SMS. Wie sicher ist es, einen Journalisten zu treffen, den man nur von E-Mails kennt und der behauptet, aus Deutschland zu kommen? Wie vorsichtig ist jemand, der immer noch Angst hat, dass ihn weißrussische KGB-Häscher erwischen könnten?

Die Geschäfte Europas

Erst im August hat Litauen Weißrussland Amtshilfe geleistet und Kontodaten des weißrussischen Menschenrechtsaktivisten Ales Bialiatski weitergegeben, der daraufhin wegen Steuerhinterziehung verhaftet wurde. Stiftungen hatten Hilfszahlungen auf sein Konto überwiesen. Der litauische Justizminister entschuldigte sich.

Am Abend ist Natalia Radina dann doch noch mit einem Treffen einverstanden. Sie sei im Rathaus bei einer offiziellen Veranstaltung. Auch dort ist sie erst noch beschäftigt, muss mit Politikern reden. Nach einer halben Stunde hat sie Zeit. Es ist ein bisschen wie bei einer Audienz – auch wenn Radina keine Allüren hat. Sie hat eine Aufgabe und sich entschieden, trotz Gefängnis und Exil weiterzumachen. Ihre Sprache ist nüchtern. Emotionen zeigt sie nicht, doch sie wirkt nicht kalt.

Natalia Radina hat in Minsk Journalismus studiert, doch „schon seit ich 18 Jahre alt bin, arbeite ich für die unabhängige weißrussische Presse“, sagt sie. Seit rund zehn Jahren leitet sie Charter97. „Es ist sehr schwierig, davon zu leben. Aber wenn man als unabhängiger Journalist gegen das Lukaschenko-Regime kämpfen möchte, dann denkt man nicht an Reichtum.“ Für Nebenjobs hat sie keine Zeit. Geld bekommen sie und ihre Kollegen von europäischen und amerikanischen Institutionen. Schwer ist es trotzdem. „Die EU spricht viel über die Unterstützung der weißrussischen Opposition, aber praktisch gibt es wenig Hilfe“, sagt Radina. Jude Law demonstrierte in London auch gegen ein britisches Unternehmen, das Öffentlichkeitsarbeit für das Engagement ausländischer Firmen in Weißrussland macht. Doch solange Europa Geschäfte mit Lukaschenko macht, statt ihn zu sanktionieren, könne die Lage nicht besser werden, sagt Radina.

Das deutsche Auswärtige Amt erklärte vergangenen Februar: „Die Bundesregierung verfolgt nach den massiven Verletzungen der Menschenrechte durch die belarussische Regierung einen zweigleisigen Ansatz. Einerseits hat die EU jüngst Sanktionen gegen die politische Führung in Minsk verhängt. Andererseits soll die belarussische Zivilgesellschaft unterstützt werden.“ Bei einer Geberkonferenz in Warschau stellte die Bundesregierung 6,6 Millionen Euro zur Förderung der Zivilgesellschaft in Weißrussland zur Verfügung.

Es droht der Staatsbankrott

Die Unterdrückung in Weißrussland sei „eine Schande für Europa“, sagte Außenminister Guido Westerwelle auf dem OSZE-Treffen Anfang Dezember. Hillary Clinton äußerte: „Wir werden mit unseren Partnern in der EU und anderen Demokratien weiter gegen das Lukaschenko-Regime vorgehen, Sanktionen und Reiseverbote eingeschlossen.“ Um Weißrussland steht es schon seit Monaten nicht mehr gut. Der Rubel hat massiv an Wert verloren, die Lebensmittelpreise haben sich vervielfacht. Dem Land droht der Staatsbankrott, es braucht Milliarden. Selbst den Internationalen Währungsfonds, eine UN-Organisation, bat Lukaschenko um Hilfe. Moskauer Medien berichteten laut dpa, dass immer mehr Weißrussen nach Massenentlassungen aus den Staatsbetrieben Arbeit in Russland suchen. „Alle Diktaturen haben irgendwann ihr Ende“, sagt Natalia Radina.

„Er liebte das Leben“

Sie wird das politische Ende von Lukaschenko hoffentlich noch erleben. Ihr Kollege und Freund Oleg Bebenin nicht mehr. Er hatte Charter97 im Jahr 1998 gegründet. Der Name ist angelehnt an Charta 77, eine im Januar 1977 veröffentlichte Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes in der damaligen Tschechoslowakei.

„Oleg Bebenin“, sagt Radina, „war ein Mann, der das Leben liebte“. Die Journalistin erinnert sich an ihre Geburtstage, auf denen Oleg dabei war. „Er war einer der lustigsten Menschen, einer der immer im Mittelpunkt stand.“ Wenn einer seiner Freunde oder Kollegen Schwierigkeiten hatte, half er.

Dann war er eines Tages verschwunden. Radina atmet aus. „Seine Frau rief an, bat, ihn zu finden.“ Oleg Bebenins Freunde suchten den ganzen Tag nach ihm. Er hatte sich für den Abend des 2. September 2010 mit Freunden zum Kino verabredet. Der Vater von zwei Söhnen liebte Hollywood-Filme, verpasste keine Premiere. Er hatte viele Freunde eingeladen, nur er selbst, er kam nicht.

Radinas Sprache ist nicht brüchig, sie erzählt einfach. Nur zweimal senkt sie den Kopf, verdeckt ihn mit ihrem Arm. „Am Abend fuhren seine Freunde zu seiner Datscha.“ Radina erhielt einen Anruf. Oleg war mit einem Strick aufgehängt worden. Er hatte Prügelspuren an seinem Körper. Oleg Bebenin wurde 36 Jahre alt. „Ich war geschockt und habe viel geweint, aber verstanden, dass es kein Selbstmord war“, sagt Natalia Radina. Ihr Freund und Kollege wurde wegen seiner Arbeit umgebracht. Radina bewahrt sein Andenken, indem sie Charter97 am Leben hält.

Der Artikel erschien im Medienmagazin journalist 1/2012.

Hier geht es zur weißrussischen Übersetzung des Textes.

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Gut analysiert. Nur bei...
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Otto Hildebrandt (Gast) - 2013-10-10 14:08

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