Leseprobe aus "Dunkel glänzt Berlin"

Kriminalkommissar Henri Valentin stöhnte auf. Der Bericht in seinen Fingern schien beständig schwerer zu wiegen. »Gott, ist das hier heiß«, murmelte er. »Aber was soll’s. Immerhin gehört dieses Büro jetzt mir allein. Herrlich!«
Er lehnte sich im Holzstuhl zurück und zupfte an seinem Hemd,
verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ seinen Blick durch den Raum wandern: Ein Sofa, ein paar Stühle, zwei Schränke und die Tür mit der kleinen Milchglasscheibe. Die beiden Fenster hinter ihm waren geöffnet. Zum Glück schien die Sonne nur vormittags herein. Stattdessen wehte nun ein leichter Wind durch die Rahmen und kühlte Henris Nacken.
Da huschte plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht. Er beugte sich herunter und zog ein Keramikschälchen aus seiner Schreibtischschublade. Ein Löffel folgte sogleich. Der frisch gebackene Kommissar entfernte das Butterbrotpapier, welches das Schälchen verschloss Rote Grütze. Wie herrlich.
Seine Mutter hatte ihm erst beim gestrigen Besuch zwei große
Schalen mitgegeben. Er liebte das verdammte Zeug. Hätten die
Berichte auf seinem Schreibtisch eine Stimme gehabt und laut geschrien, Valentin hätte sie nicht mehr gehört. Im Gegenteil: Jetzt legte er sogar seine Füße auf die Dokumente, schob dann den Löffel langsam in das fruchtige, rot glänzende Kompott und ließ diesen sogleich in seinem Mund verschwinden.
Da ertönte ein lautes Klopfen, und ohne dass er zum Eintreten
aufgefordert hätte, wurde die Tür auch schon geöffnet.
»Ah, Herr Valentin, ich hoffe ich störe Sie nicht«, flötete Valentins
Vorgesetzter, während sein Blick von der Roten Grütze zu den Füßen auf dem Schreibtisch und wieder zurück wanderte. Henri war sich sicher, würde Ironie tropfen, hätte sein Chef nasse Füße gehabt. »Lassen Sie sich ruhig Zeit mit den Berichten. Ich warte ja nicht darauf. Soll ich noch einmal in einer Stunde vorbeikommen?«
Henri starrte ihn wortlos und mit großen Augen an.
»Verdammt nochmal, Valentin. Nehmen Sie gefälligst den Löffel
aus dem Mund, wenn ich mit Ihnen rede“, polterte der Chef weiter.
„In dreißig Minuten liegt der Bericht auf meinem Schreibtisch. Ist
das klar?«
Die Tür knallte zu. Henri wollte sich gerade erneut entspannen, als die Tür wieder aufflog. »Und dass ich Sie nicht noch einmal mit ihren Füßen auf dem Tisch erwische. Sie glauben wohl, Sie wären im Kabarett, was?«
»Nein Chef, keinesfalls«, beschwichtige Henri schnell.
»Für Sie immer noch Herr Kriminalhauptkommissar, Valentin.
Ihre Beförderung ist Ihnen wohl zu Kopf gestiegen? Sputen Sie sich, Mann!“ Und einmal mehr donnerte die Tür uns Schloss.
*
Kastanien. Wie gerne hätte sie jetzt heiße Kastanien gegessen.
Dumm war nur, dass es gerade Hochsommer war. Henny von Lüsewitz spazierte am Innenhof der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität vorbei. Zahlreiche Kastanienbäume standen dort. Es war spät geworden. Kurz vor Mitternacht. Gut, dass sie nicht weit entfernt wohnte. Sie trug ein schlichtes, gerade geschnittenes, blaues Abendkleid; dazu einen farblich abgestimmten, rundlichen Hut mit leicht nach unten hängenden Rändern. Der Abend mit ihren Freundinnen im Varieté war wundervoll gewesen. Wie dreist und freizügig die eine der Darstellerinnen doch gewesen war! Aber auch amüsant. Bei
der Parodie auf die Nationalsozialisten hatte das halbe Publikum
unter den Tischen gelegen. Aber die Kerle hatten eh nur auf die
Strapse geschaut. Wenn ihre Mutter das gesehen hätte, sie wäre tot umgefallen vor Scham. Henny musste grinsen. Dennoch: Sie selbst würde nie im Leben so etwas anziehen.
Plötzlich hielt sie in ihren Gedanken inne und zupfte unsicher am
Griff ihrer Handtasche. Sie fühlte sich beobachtet. Und tatsächlich: Grüne Augen starrten sie aus der Dämmerung an; nur wenige Meter entfernt, am Seitenflügel des Universitätsgebäudes – und sehr dicht am Boden. Henny entspannte sich. Es war nur eine Katze. Doch was war das? Die Katze lief schnurstracks zur Tür des Universitätsgebäudes und huschte hinein. Wie war es möglich, dass die Tür überhaupt geöffnet war? Sollte sie nicht eigentlich verschlossen sein?
Henny näherte sich der Tür, spähte durch den Spalt und sah sich
suchend um, doch im Inneren erwarteten sie nur ein langer, dunkler Flur und verschlossene Türen. Selbst die Katze war verschwunden. »Mein Gott, vielleicht hat einfach ein Professor nicht richtig abgeschlossen. Die sind ohnedies alle ein wenig zerstreut«, murmelte Henny. Sie wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als sie eine Stimme zu hören glaubte. Jetzt bemerkte sie einen sanften Lichtschein am Ende des Flures. Vorsichtig ging sie einige Schritte weiter.
»Wieso bekommst du denn das Ding jetzt nicht auf, Mensch?«,
drang es leise an Hennys Ohr. Jetzt wurde es Henny zu bunt; vorsichtig trat sie den Rückzug an. Doch als sie sich umwandte, stand wie aus dem Nichts eine große Gestalt vor ihr, und die Augäpfel in dem vermummten Gesicht leuchteten schwach ...
Die ganze und zehn andere Geschichten sind im Buch "Bitte mit Schuss" enthalten.
7an - 2007-05-31 23:30
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