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Das Bauernopfer - Warum die Deister-Leine-Zeitung sterben musste

Helena Tölcke bei der letzten Redaktionssitzung
Helena Tölcke bei der letzten Redaktionssitzung / Alle Bilder: Jan Söfjer

Im großen Medienrauschen ist das Ende der Deister-Leine-Zeitung nur eine Randnotiz. 4.500-mal verkaufte sie sich im niedersächsischen Barsinghausen. Nun ist nach 126 Jahren Schluss. Dabei war die DLZ die erste Zeitung am Ort. Warum versuchte niemand, sie mit einem neuen Konzept zu retten? Und welche Rolle spielte der große Madsack-Konzern beim Ende des kleinen Traditionsblatts? Eine Spurensuche.

Von Jan Söfjer

Er wird nie wieder diese Treppe hinabsteigen, um zu einem Termin zu gehen. Doch man merkt Wolf Kasse nicht an, dass sich gerade sein Leben auflöst. Er eilt von der Redaktion im ersten Stock nach unten zur Geschäftsstelle. „Letzter Termin“, sagt Kasse zur Frau am Empfang, lächelt dabei ein wenig und steigt draußen in seinen alten Mercedes Kombi, der vor dem roten Backsteinhaus der Deister-Leine-Zeitung (DLZ) parkt.

Das Barsinghäuser Rathaus ist nur ein paar hundert Meter entfernt. Rund 36.000 Menschen leben in der Stadt, die sich 20 Kilometer südwestlich von Hannover an den Deisterwald schmiegt. Im Rathaus-Foyer versammeln sich 15 Männer und Frauen, darunter der Sparkassenleiter aus dem Ort, der Polizeichef, die Leiterin eines Pflegeheims, ein Bäckermeister, der Bürgermeister und zwei Politiker. Sie alle stehen im Kreis unter kaltem Deckenlicht vor den Toiletten und reden über die anstehende Ausbildungsmesse für Jugendliche, obwohl es überhaupt nichts Neues zu berichten gibt. Trotzdem sind vier Reporter gekommen: vom Anzeigenblatt Deister Aktuell, von den Calenberger Online News, von der Calenberger Zeitung und Wolf Kasse von der Deister-Leine-Zeitung. Kasse ist 53 Jahre alt, seit 32 Jahren arbeitet er für das Blatt. Doch morgen wird er auf keinen Termin gehen, er wird auf gar keinen Termin mehr für seine Zeitung gehen. Morgen, am 29. Februar 2012, erscheint die letzte Ausgabe. Die Deister-Leine-Zeitung wird nach 126 Jahren und zwei Monaten eingestellt. Ein Bauernopfer.

Ein symbolisches Buch zum Abschied

Helena Tölcke leitet die Redaktion seit zwölf Jahren, seit drei Jahren führt sie auch die Geschäfte. Eine Kollegin hat der 54-Jährigen einen Roman geschenkt: Die Unperfekten. Ein Roman über den Niedergang einer englischsprachigen Zeitung in Rom. Ein klein wenig erinnert Tölcke an die Chefredakteurin im Buch. Sie strahlt eine natürliche Autorität aus. Bei der Konferenz am Vormittag sitzen die Kollegen am Tisch, die Chefin nicht, sie steht, nach vorne gebeugt, die Hände auf den Tisch gestützt. Der Norddeutsche Rundfunk ist mit vier Leuten gekommen, um einen Fernsehbeitrag für Hallo Niedersachsen zu drehen, zwei Redakteure von taz und Spiegel Online werden später auch noch vorbeischauen. Tölcke sagt, für große Emotionen sei heute kein Platz. „Wir müssen überlegen, wann wir Deadline machen. Es kann auch noch spät was reinkommen.“ Sie wollen die letzte Ausgabe nicht versauen.

Gut einen Monat vorher, am Nachmittag des 24. Januars, bekommt Helena Tölcke den Anruf von der Eigentümerin der Zeitung, der Deister- und Weserzeitung Verlagsgesellschaft (Dewezet). Die Sekretärin der Geschäftsführerin ist sonst meist fröhlich, doch dieses Mal scheint sie bedrückt. Sie bittet die Redaktionsleiterin am nächsten Tag nach Hameln in die Zentrale. „Ich habe geahnt, was sie mir sagen wollten“, erzählt Tölcke in ihrem Büro, das auch von einem Papillon-Hündchen und einem Golden Retriever bewohnt wird. In Hameln wird Tölcke von der Verlegerfamilie empfangen: Geschäftsführerin Julia Niemeyer, deren Vater Günther Niemeyer sowie ihr Onkel Hans Niemeyer. Günther Niemeyer kommt gleich zur Sache: Er habe die traurige Pflicht, mit großem Bedauern mitzuteilen, dass man sich entschieden habe, die Deister-Leine-Zeitung einzustellen. „Das war auch für ihn ein schwerer Gang“, sagt Tölcke heute. Für sie wird es schwerer. Seit 1987 arbeitet sie für die Zeitung.

Ließ die wirtschaftliche Entwicklung keine Wahl? Geschäftsführerin Niemeyer sagte der Presse: „Wir sind uns der Tragweite dieser Entscheidung bewusst, aber die wirtschaftliche Entwicklung in der Medienbranche lässt uns leider keine andere Wahl.“ Am Ende hätten die Prognosen für die kommenden Jahre, die sinkende Auflage und die wirtschaftlichen Verluste am Standort Barsinghausen diesen Schritt unausweichlich gemacht. Die verkaufte Auflage der Zeitung sank in den vergangenen zehn Jahren von 6.200 auf 4.500 Exemplare.

Der große Spieler von nebenan

Es wurde viel geschrieben und gemutmaßt, warum es die Deister-Leine-Zeitung nicht mehr gibt. Von Überalterung der Leserschaft war die Rede. Dass früher ein Abonnement übernommen wurde, wenn die Großeltern im Haus starben, heute die Abo-Kündigung aber mit der Sterbeurkunde komme. Dass die jungen Menschen Informationen via Smartphone statt aus der Zeitung bekommen. Dass es selbst in Städten wie Barsinghausen immer weniger selbstständige Geschäfte und immer mehr Ketten gebe, die nicht mehr in Zeitungen werben würden und die Anzeigenblätter zudem den Marktkampf verschärften.

Der Medienforscher Horst Röper nennt eine Kompletteinstellung dennoch „höchst ungewöhnlich“. Dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) fallen nur zwei traditionsreiche Blätter ähnlicher Größe ein, die seit der Jahrtausendwende schließen mussten: die Honnefer Volkszeitung und die Mendener Zeitung. Den Pressestatistiker Walter J. Schütz verwundert, dass die Deister-Leine-Zeitung eingestellt wurde, obwohl sie die Erstzeitung war – also die einzige wirkliche Zeitung aus dem Ort für den Ort. Der Konkurrent Calenberger Zeitung verkaufte zwar zuletzt als Beilage in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und der Neuen Presse 14.200 Exemplare, doch die Verkäufe in Barsinghausen liegen laut Schütz in beiden Fällen bei gut 4.000 Exemplaren – also nur auf DLZ-Niveau. „Ich kenne keine Zeitung in erster Position, die in den letzten 60 Jahren eingestellt wurde“, sagt Schütz. Warum also wurde die Deister-Leine-Zeitung dichtgemacht?

Der große Spieler nebenan in Hannover ist die Mediengruppe Madsack. Der Konzern beschäftigt bundesweit 4.350 Mitarbeiter und erzielte 2010 einen Umsatz von mehr als 608 Millionen Euro. 2009 übernahm Madsack vom Springer-Verlag Beteiligungen an acht Regionalzeitungen und stieg damit unter den großen Verlagsgruppen von Rang acht auf Rang sechs auf. Schon seit Jahren warf sie keinen Gewinn mehr ab Mit der Dewezet, dem Eigentümer der Deister-Leine-Zeitung, verbindet Madsack ein enges Geflecht. Über Calenberger Zeitung und DLZ waren sie nicht nur Konkurrenten in Barsinghausen, sondern sind es auch noch im Landkreis Schaumburg, 20 Kilometer weiter westlich. Der Dewezet gehört dort die Schaumburg-Lippische Landes-Zeitung und die Schaumburger Zeitung, an der Madsack acht Prozent hält. Madsack gehören wiederum die Schaumburger Nachrichten, an der Dewezet ihrerseits mit 20 Prozent beteiligt ist. Im Vergleich zu Madsack ist Dewezet aber ein Zwerg. Die Abhängigkeit von Madsack wird erst recht deutlich, wenn man weiß, dass die Dewezet seit 2004 keine eigene Mantelredaktion mehr besitzt. Madsack liefert ihn (und hält fünf Prozent am Dewezet-Verlag). Das führte zu der kuriosen Situation, dass die Deister-Leine-Zeitung ihren Mantel von der Konkurrenz bezog. Bei den Schaumburger Dewezet-Titeln ist es ebenso.

Es hätte Alternativen gegeben

Seit 1896 saß die Redaktion in dem Haus an der Bahnhofsstraße 5.
Seit 1896 saß die Redaktion in dem Haus an der Bahnhofsstraße 5.

Die Deister-Leine-Zeitung soll schon seit zwölf Jahren keinen Gewinn mehr gemacht haben. Im Haus hieß es aber immer, dass dank der DLZ das Druckzentrum des Verlags in Hameln besser ausgelastet sei, und solange die Erlöse dadurch die Verluste der Zeitung überstiegen, sei nichts zu befürchten. In der Redaktion sagen sie: „Wir haben zwölf Jahre lang mit dem Gerücht gekämpft, dass man die DLZ einstellen will – angeblich immer aus ganz sicherer Quelle. Die letzten drei, vier Jahre hörten wir dann nichts mehr.“ Dabei soll das Ende der Zeitung seit einem Jahr festgestanden haben. Nachvollziehbar, wenn man sieht, dass zwischen Ankündigung und Einstellung nur fünf Wochen lagen und eine Alternative nicht einmal in Betracht gezogen wurde. Warum haben die Niemeyers nicht gemeinsam mit der Redaktion überlegt, mit welchem Konzept die Zeitung weiter bestehen kann? Warum wurde nicht versucht, ein Wochenblatt oder eine Onlinezeitung aus der Deister-Leine-Zeitung zu machen? Unmöglich? Vor einem Dreivierteljahr starteten drei ehemalige DLZ-Pauschalisten die Calenberger Online News und machen bereits erste Gewinne mit der Seite. Auf Facebook haben sie mehr als 1.000 Fans und erobern die jungen Fußballer der Gegend als Leser, indem sie in dem sozialen Netzwerk den Spieler der Woche und der Saison wählen lassen. Zum Vergleich: Die Calenberger Zeitung hat rund 130 Fans – und muss online ihre Artikel auf haz.de und neuepresse.de aufteilen, weil sie keine eigene Website hat. Auch die Umstellung zum Anzeigenblatt wäre für die DLZ eine Option gewesen. Es soll bald ein neues in der Stadt starten – von Madsack, heißt es.



„Der Branchenriese Madsack hat dem Verlag signalisiert: Wenn ihr die DLZ einstellt, greifen wir euer Flaggschiff in Hameln nicht an.“


Julia Niemeyer möchte nichts mehr zu dem Thema sagen. Andere schon. „Der Branchenriese Madsack hat dem Verlag signalisiert: Wenn ihr die DLZ einstellt, greifen wir euer Flaggschiff in Hameln nicht an“, sagte ein Insider dem journalist. Die Deister- und Weser-Zeitung ist in Hameln konkurrenzlos. Dem Verlag soll es nicht allzu gut gehen. Würde Madsack in Hameln aktiv werden, könnte das den Tod der Deister- und Weserzeitung Verlagsgesellschaft bedeuten. Einen ähnlichen Deal soll es im Jahr 2010 – damals zwischen dem Ippen- und dem WAZ-Verlag – gegeben haben, als die Mendener Zeitung nach 150 Jahren eingestellt wurde (siehe journalist 4/2010). Im Hause Madsack dementiert man. „Nein“, man habe der Dewezet nicht gedroht, hieß es gegenüber dem journalist.

Die Madsack-Gruppe weiß gut, wo sie der Dewezet schaden kann. Madsack-Verlagsleiter Günter Evert war Geschäftsführer der Schaumburger Nachrichten in Stadthagen, wechselte direkt im Anschluss für fünf Jahre in die Geschäftsführung der Dewezet und kehrte 2011 zu Madsack zurück. In seinem Xing-Profil steht heute noch „Geschäftsführer Dewezet“.

Es riecht nach Druckerfarbe

Beim Betreten des kleinen Backsteinhauses der Deister-Leine-Zeitung bemerkt man einen Geruch, den man nur noch selten in Zeitungshäusern wahrnimmt. Es riecht nach Druckerfarbe. Seit 1896 saß die Redaktion in dem Haus an der Bahnhofsstraße 5. Vier Jahre zuvor, am 21. Dezember 1885, erschien die erste Ausgabe unter Verleger Philipp August Weinaug. Eigentlich reichen die Ursprünge der Zeitung aber noch ein knappes Jahr weiter zurück. Der Buchdrucker Louis H. Rohmeyer begann im nahen Wennigsen mit einer Zeitung, zog nach Barsinghausen um, verlor aber schnell die Lust und verkaufte im Herbst an Weinaug. So hat es Wolf Kasse im vergangenen Jahr für die 125-Jahre-DLZ-Ausgabe recherchiert, für die der damalige Bundespräsident Christian Wulff, Kanzlerin Angela Merkel und der niedersächsische Ministerpräsident David McAllister Grußworte schrieben. Rohmeyer wanderte 1890 mit seiner Frau nach Amerika aus und landete am Ende in Auburn, Nebraska, wo er den Westlichen Beobachter gründete. Den Western Nebraska Observer gibt es noch heute, er erscheint jeden Donnerstag. 1913 übernimmt Weinaugs Stiefsohn Emke-Wilhelm Hillrichs den Betrieb, drei Jahre später stirbt Gründer Weinaug.

Der neue Eigentümer ist es, der 1950 die erste Zusammenarbeit mit der Dewezet vereinbart, dem Verlag, der die Deister-Leine-Zeitung 62 Jahre später einstellen wird. „Das war ein Knackpunkt“ Seit 1972 wird die Zeitung bei der Dewezet in Hameln gedruckt. Eine eigene Offset-Anlage ist zu groß für die DLZ. 1994 kommt es zu weiteren weitreichenden Entscheidungen: dem Verkauf der Hausdruckerei und des Anzeigenblatts Deister-Woche. Redaktionsleiterin Tölcke sagt heute: „Das war ein Knackpunkt. Hätten wir heute ein eigenes Anzeigenblatt, würden wir nicht über die Schließung der DLZ reden.“ Seit 1999 gehört der ganze Weinaug-Verlag der Dewezet-Gruppe. Der damalige DLZ-Verleger blieb zehn Jahre lang angestellter Geschäftsführer. In der Jubiläumsausgabe sagt er, die DLZ sei zu klein gewesen, um allein überleben zu können. „Wichtig war mir, dass der Zeitungstitel erhalten bleibt, das Unternehmen weiter vor Ort sein kann und die Arbeitsplätze gesichert sind.“

„Ich verdränge das“

Helena Tölcke und Wolf Kasse am Abend des letzten Redaktionstages.
Helena Tölcke und Wolf Kasse am Abend des letzten Redaktionstages.

Nun verliert nicht nur Helena Tölcke ihre Anstellung. Außer dem vier Redakteure, vier Vollzeit-Tagespauschalisten, drei Leute in der Geschäftsstelle, drei im Anzeigenverkauf, eine in der Anzeigenplatzierung, die Redaktionsassistentin und zwei Reinigungskräfte. Hinzu kommen die freien Mitarbeiter. Für manche war die Deister-Leine-Zeitung der wichtigste Auftraggeber. Tölcke und ihre vier Redakteure haben noch keine Kündigung erhalten, sie müssen den Betrieb noch abwickeln und die Räume bis Herbst besenrein übergeben. Einer von ihnen ist Mirko Haendel, 38 Jahre alt und der einzige Sportredakteur. Er hat gerade in Barsinghausen ein Haus gebaut, seine Frau ist schwanger. Redakteurin Sabine Rasche, 52, kennt die Zeitung seit Kindesbeinen, ihre Mutter hat hier 30 Jahre lang als Schriftsetzerin gearbeitet. Jennifer Minke-Beil, 33, ist erst seit einem Dreivierteljahr hier. Es heißt, sie alle sollen woanders im Verlag unterkommen, aber das ist ungewiss. Pech gehabt haben die vier Pauschalisten, die de facto als Redakteure gearbeitet haben.

Bei Tom Rachmans Die Unperfekten heißt es: „Die letzten Tage der Zeitung waren nervenaufreibend. Ein paar Mitarbeiter kamen überhaupt nicht mehr, andere schleppten Computer-Equipment weg, als Entschädigung für künftige Gehälter, manche betranken sich ungeniert, missachteten Redaktionsschlüsse, fingen sogar Raufereien im Newsroom an.“ Am letzten Tag der Deister-Leine-Zeitung passiert nichts von alledem. Die Leute verhalten sich gerade so, als wäre alles wie immer. „Ich verdränge das“, sagt Sabine Rasche. Die Redaktion der Deister-Leine-Zeitung bleibt an Bord, spielt weiter, wie die Musiker im Titanic-Film, während das Schiff sinkt.

Erschienen im Medienmagazin journalist 4/2012

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Johanna (Gast) - 2013-12-05 10:34
Gut analysiert. Nur bei...
Gut analysiert. Nur bei der politischen Ausrichtung...
7an - 2013-10-10 15:08
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Nur eine kurze Anmerkung. Journalisten denken von ihrem...
Otto Hildebrandt (Gast) - 2013-10-10 14:08

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