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Sonntag, 8. Juni 2008

Über den Neuanfang

"Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten." - Gotthold Ephraim Lessing

Wir glauben schnell, dass wir unser Leben jederzeit umkrempeln könnten, wenn wir nur wollten. Wir glauben, dass wir das Alte hinter uns lassen könnten. Können wir wirklich?

Wir hören sehr erwachsene Büromädchen von Wagemut und Aufbruch reden - und eigentlich auch jeden anderen. Doch können wir wagemutig sein? Wollen wir überhaupt wagemutig sein?

"Hat sich erst einmal alles eingespielt, sind Lebenspartner und Beruf gefunden, verschließen sich Menschen zunehmend dem Neuen. [...] Das steht in einem merkwürdigen Kontrast zu dem gerade von Vertretern der Ü-30-Generation oft beschworenen Wunsch nach grundlegenden Veränderungen. Offenbar kollidiert der theoretische Wunsch nach Neuem mit einer realen Furcht vor Veränderung", war nun in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung zu lesen.

Nichts gegen ein geregeltes Leben, in dem man es sich gemütlich gemacht hat. Ich selbst mag das sehr. Aber warum reden dann die Menschen immer soviel von Veränderung, wenn sie doch nie etwas ändern?

Vielleicht ist der Glaube an das Neue, daran, dass sich etwas ändert, auch eine Art Medizin. Mir selber hat zum Beispiel der Gedanke an einen Umbruch sehr den Berufseinstieg erleichtert. Durststrecken lassen sich besser aushalten, wenn man Wasser hinter der nächsten Düne wähnt.

Trotzdem: Wozu all das Gelaber, wenn man doch niemals handelt? Weil die Menschen Angst haben.

Vor einem halben Jahr habe ich einen Kumpel in England besucht, um mich bei einem Tag der offenen Tür für einen Master zu informieren. Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so nervös und unruhig gewesen wie die Nacht zuvor und den ganzen Tag bis es abends endlich losging. Mehr noch: Ich hatte Angst. Es gab nichts zu befüchten. Es war keine große Sache. Aber ich hatte Angst. Es war der symbolische Schritt, der mir Angst gemacht hat. Der Geruch nach Neuanfang. Und Neuanfang heißt auch immer, das Alte abzureißen - vieles zu verlieren, was man besitzt, was einem eine Heimat ist.

Als ich vor einem dreiviertel Jahr zum ersten Mal getrampt bin, hatte ich auch Angst. Fühlte sich ganz schön blöd an, so an der Straße zu stehen und den Daumen zu heben. Richtig mies fühlte ich mich, als ich zwei Stunden an Autobahnrasthöfen stand und niemand anhielt. Und irgendwann wurde es dunkel.

Neulich habe ich eine zweiwöchige Reise durch Deutschland gemacht. An manchen Tagen wusste ich nicht, wo ich die nächsten Tage schlafen würde. Ich habe viel gecouchsurft, manchmal bin ich wieder getrampt. Es gab nie eine Sicherheit.

Das bedeutete Stress, aber ich habe eine Freiheit erfahren, die ich vorher nie erlebt habe, die ich nicht kannte. Ruhiger bin ich auch geworden. Was soll schon passieren? Ein Wahnsinnn, wie verrückt sich viele Menschen in ihrem hektischen kleinen Leben machen.

Und seit ich auf die Gastfreundschaft anderer Menschen angewiesen war, bin ich selber viel gastfreundlicher. Es ist ja eine Sache, ob man nur bei Couchsurfing.com angemeldet ist oder ob man fremde Menschen einlädt, bei sich zu pennen.

Vermutlich sind die Menschen zu leichtfertig mit ihren Wünschen. Zu unehrlich. Ideen für Aufbrüche und neue Lebensabschnitte müssen vorsichtig gesäät und gehegt werden. Sie müssen wachsen. Viele Keime werden verkümmern. Es Bedarf Arbeit und Pflege, eine Idee groß werden zu lassen. Eine reelle Idee, keine Utopie, wohlgemerkt.

Und dann, wenn die Idee Wurzeln geschlagen hat, so starke Wurzeln, dass sie einen tragen kann, dann muss man den Hammer holen und die Ketten, die einen halten, zerschlagen. Aber die Ketten, das sind keine schmerzenden Handschellen. Die Ketten, das sind das eigene Haus, der Arbeitsplatz, die Bündnisse mit den Freunden. All das muss man zerschlagen, um loszukommen.


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Gut analysiert. Nur bei...
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Otto Hildebrandt (Gast) - 2013-10-10 14:08

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